Können virtuelle Realitäten die Ängste von Patient*innen lindern? Genau das erproben Expert*innen der Klinik und Poliklinik für Chirurgie des Universitätsklinikums rechts der Isar in München bei chirurgischen Eingriffen unter lokaler Betäubung. Die Betroffenen bekommen dabei keine beruhigenden Medikamente verabreicht, sondern eine VR-Brille aufgesetzt. Und die ersten Erfahrungen sind tatsächlich vielversprechend.

Als Dr. Michael Kranzfelder (44) das Skalpell unterhalb ihres rechten Schlüsselbeins ansetzt, taucht Patientin Maria Koch (Name geändert) gerade zu einem Korallenriff ab. Sie folgt einer Schildkröte, die vor ihren Augen durch eine bunte Unterwasserwelt schwebt, scheinbar zum Greifen nah. Eine virtuelle Welt. Denn in Wirklichkeit liegt Maria Koch in einem OP-Saal des Zentrums für ambulante Chirurgie (ZAC) am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM). Sie trägt eine VR-Brille im Gesicht, die ein wenig aussieht wie eine überdimensionierte Skibrille – und in deren Inneren modernste Computertechnik steckt. Erst die Stimme des Operateurs holt Maria Koch aus ihrem virtuellen Ozean zurück. „Haben Sie den Hautschnitt gespürt?“, fragt sie der Oberarzt jetzt. Die 66-jährige Patientin antwortet prompt:  „Nein! Aber ich spüre das Blut, das an der Schulter runterläuft.“ Dr. Kranzfelder, Privatdozent an der Klinik und Poliklinik für Chirurgie und viszeralchirurgischer Leiter des ZAC, beruhigt seine Patientin: „Das ist nur etwas von der Desinfektionsflüssigkeit, mit der wir die OP-Stelle abgewaschen haben.

Privatdozent Dr. Michael Kranzfelder, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Chirurgie und viszeralchirurgischer Leiter des Zentrums für ambulante Chirurgie (ZAC) am Universitätsklinikum rechts der Isar, hält eine VR-Brille in der Hand. Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Maria Koch bekommt an diesem Tag einen sogenannter Portkatheter (siehe „Stichwort“ unten) eingesetzt. Dieser soll ihr die Chemotherapie erleichtern, die ihr wegen eines Lymphoms, also einer Krebserkrankung des Lymphsystems, bevorsteht. Um den Portkatheter einzusetzen, ist ein kleiner, chirurgischer Eingriff nötig. Dieser erfolgt unter örtlicher Betäubung, allerdings bei vollem Bewusstsein der Patientin. Maria Koch soll die VR-Brille dabei helfen, Aufregung und Ängste während der Operation zu lindern. Diese Brille vermittelt ihr die optische Illusion, frei durch den Ozean zu gleiten. Dazu erklingt leise Musik. „Ich war ganz platt, als ich gehört habe, dass so etwas möglich sein soll“, erzählt die Patientin.

Hightech gegen Ängste: Patientin Maria Koch (Name geändert) trägt während des ambulanten Eingriffs eine VR-Brille auf dem Gesicht. Diese soll die Aufregung lindern.
Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Während des Eingriffs erklärt der Chirurg seiner Patientin jeden Schritt. Ein leichtes Nicken oder eine kurze Antwort verraten ihm, dass er sie auch in der virtuellen Welt erreicht. Maria Koch liegt dabei entspannt auf dem OP-Tisch. Und sie bleibt selbst dann ruhig, als ihr Oberarzt Kranzfelder erklären muss, dass er die zuerst freigelegte Vene leider nicht für den Port verwenden könne – „zu dünn“. Schließlich sagt er: „Dann nehmen wir eben die Vene unter dem Schlüsselbein.“ Koch nickt, und währenddessen schwebt die virtuelle Schildkröte vor ihren Augen weiter.

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Genau das ist es, was Kranzfelder sich vom Einsatz der VR-Brille erhofft: „Die Patientinnen und Patienten können sich ein wenig entspannen. Sie sollen ansprechbar bleiben, sich dabei aber nicht zu sehr auf die OP konzentrieren. Sonst denken sie ständig: Gleich tut’s bestimmt weh – und dann bekommen sie Angst.“ Denn durch die lokale Anästhesie ließen sich zwar die Schmerzen ausschalten, aber das Gefühl, gleich passiere etwas Unangenehmes, bleibe.

Hat den Eingriff gut und entspannt überstanden: Patientin Maria Koch (Name geändert) mit ihrem Operateur Privatdozent Dr. Michael Kranzfelder (Klinik und Poliklinik für Chirurgie).
Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Bislang werden VR-Brillen beispielsweise in der Kinderheilkunde, Urologie und Gynäkologie eingesetzt: Hier liegen bereits Studiendaten vor, die eine angstreduzierende Wirkung belegen. Kranzfelder ist allerdings davon überzeugt, dass VR-Brillen einen vergleichbaren Effekt auch bei chirurgischen Eingriffen haben. Und das will er nun auch wissenschaftlich belegen – eine Machbarkeitsstudie ist längst in Vorbereitung; mit Mitteln der Stiftung Chirurgie TU München wurde eine VR-Brille jüngst finanziert. In der Studie soll diese Brille bald bei weiteren Port-Operationen getestet und die Ergebnisse dann wissenschaftlich ausgewertet werden. Es sind häufige ambulante Eingriffe, die Kranzfelder für die Testreihe besonders geeignet erscheinen: Die renommierte Forschungsgruppe Minimal-invasive Interdisziplinäre Therapeutische Interventionen (MITI), der auch Dr. Kranzfelder angehört, hat sich mit diversen Forschungsprojekten und Studien nach 20 Jahren Forschungsaktivität national wie international etabliert. Allein an der Klinik und Poliklinik für Chirurgie, die eine Spitzenstellung bei innovativen Forschungsprojekten auf dem Gebiet der Medizintechnik einnimmt, werden jährlich rund 400 Port-OPs durchgeführt. Im gesamten Universitätsklinikum sind es etwa doppelt so viele pro Jahr, schätzt Oberarzt Kranzfelder. Sobald die Zustimmung der Ethikkommission vorliegt, kann die Studie beginnen.

Rechts die VR-Brille des Typs Pico G2 4K Premium des niederländischen Herstellers SyncVR Medical GmbH. Mit dem Tablet-Computer (links) lässt sich unter anderem einstellen, in welche virtuelle Welt ein Patient oder eine Patientin eintaucht – es gibt aktuell folgende Möglichkeiten: Unterwasserwelt, tropischer Strand, Winterwald, Weltraum und Waldspaziergang. Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Für Patientin Maria Koch steht die Wirkung der VR-Brille schon jetzt außer Frage. „Das war sehr entspannend, auch die Musik“, erzählt sie kurz nach dem Eingriff. Bis zum Ende ist sie ganz ruhig geblieben. Zweifelsohne: Für sie hat sich der Ausflug in die virtuelle Welt absolut gelohnt.

 

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Stichwort „Portkatheter“

Ein Portkatheter, meist kurz „Port“ genannt, wird Patient*innen eingesetzt, die häufig Medikamente in die Blutbahn gespritzt bekommen – etwa bei Chemotherapien. In einem kleinen ambulanten Eingriff wird dazu der „Port“, ein fingerhutgroßer Behälter, meist unterhalb des Schlüsselbeins implantiert. Dieser wird durch einen Schlauch, also den Katheter, direkt mit einer großen Vene verbunden. Zur Hautseite ist er von einer flexiblen Membran verschlossen. Soll ein Medikament injiziert werden, sticht man eine Nadel durch Haut und Membran in den Behälter. So gelangt die Arznei rasch in die große Vene – und wird dadurch  besonders schnell im Blutkreislauf verteilt. Dies beugt Reizungen vor, die aggressive Cytostatika bei einer Chemotherapie in den Wänden der kleineren Armvenen auslösen können. Es verhindert zudem, dass die Medikamente ins Gewebe gelangen und Entzündungen hervorrufen, wenn die Vene einmal nicht richtig getroffen wurde. Nach dem Entfernen der Nadel verschließt sich die Portmembran sofort von selbst, der Behälter ist dicht. Ein Portkatheter kann bei Bedarf mehrere Jahre im Körper bleiben. Er lässt sich meist weiterverwenden, sollte eine neuerliche Chemotherapie nötig sein, und ist auch für eine Schmerztherapie nutzbar. Wird der Portkatheter nicht mehr gebraucht, wird er wie schon beim Einsetzen in einem ambulanten Eingriff wieder entfernt.